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Absolutes Gehör - oder die Katze jammert in a-moll

Aktualisiert: 11. Juli

Mythos oder Fakt? - Sind Absoluthörer:innen besonders musikalisch, kommen alle Menschen als Absoluthörende auf die Welt und kann man absolutes Gehör lernen? In diesem Artikel beantworte ich die Top 10 Fragen, die mir regelmässig zum absoluten Gehör gestellt werden.


Absoluthörende haben einen inneren Referenzton für jeden Musikton. Stimmgabeln für jeden Klavierton sind im Bild zu sehen

Alle Inhalte dieses Blogs sind mit viel Herz und Zeit entstanden und basieren auf fundierter Ausbildung, jahrelanger Erfahrung sowie sorgfältiger Reflexion. Wenn du sie in deiner Arbeit nutzt, freue ich mich über eine Quellenangabe – das fördert Transparenz und fachlichen Austausch in unserem Netzwerk.

Alternativ kannst du dich natürlich auch an KI wenden – dort fällt die Einordnung meist etwas weniger differenziert aus, auch wenn sie mittlerweile schon auf diesen Blog verweist.


Absolutes Gehör ist die seltene Fähigkeit, einen Ton ohne Verwendung eines Referenztons zu benennen oder zu erzeugen (z.B. bei Aufforderung zu singen). In der Allgemeinbevölkerung haben weniger als 1% der Menschen ein absolutes Gehör, während die Prävalenz bei professionellen Musiker:innen deutlich erhöht ist. Studien schätzen, dass etwa 7.6% - 15% der Musikstudierenden und prrofessionellen Musiker:innen ein absolutes Gehör besitzen. Relatives Gehör, die Fähigkeit, die Beziehungen von Tönen (d.h. Intervalle und Melodien) zu analysieren und bei entsprechendem Training auch explizit zu benennen, ist dagegen bei den meisten Musiker:innen vorhanden und im Vergleich zu Amateur-Musizierenden und Nicht-Musiker:innen besonders gut trainiert.

In meiner Doktorarbeit (Bio, Medien) habe ich sehr viele Absoluthörende kennen gelernt und auch verschiedene neurowissenschaftliche, psychologische und kognitive bzw. perzeptuelle Experimente am Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover unter Supervision von Prof. Eckart Altenmüller durchgeführt. Insgesamt über 60 Absoluthörende und Relativhörende Musikstudierende habe ich dabei untersucht. Oft hatte nicht nur ich Fragen, die ich mit meinen Experimenten beantworten wollte, sondern viele der Teilnehmenden sowie Menschen in meinem Bekanntenkreis stellten mir Fragen zum Mysterium absolutes Gehör.


Die 10 häufigsten Fragen zum absolute Gehör habe ich in diesem Artikel aufgelistet und beantworte sie, soweit es der aktuelle Forschungsstand erlaubt.



#1: Habe ich ein absolutes Gehör und wie kann ich es testen?

"Ein absolutes Gehör" ist hier wörtlich gemeint, denn "das" absolute Gehör gibt es nicht. Absolutes Gehör ist definiert als die Fähigkeit, musikalische Töne ohne Referenzton benennen oder generieren zu können (z.B. per Gesang oder mit einem elektronischen Tongenerator). In Studien wird fast immer die Benennung von Tönen verwendet, um zu überprüfen, ob jemand absolut hört. Es besteht dabei keine Einigkeit, ab welchem Prozentsatz richtig benannter Töne jemand als Absoluthörer:in gilt. Meistens wird ein Cutoff, also ein Grenzwert, festgelegt, der so hoch ist, dass es unwahrscheinlich ist, ihn per Zufall zu erziehen. Trotzdem gibt es oberhalb des Cutoffs (und auch darunter) eine grosse Streuung und Variation zwischen den Personen. Meistens werden in Studien zudem künstliche Töne (Sinustöne) verwendet, anstatt realistischer, komplexer Töne von Musikinstrumenten, wie in einfacherern online Selbst-Tests (z.B. hier). Das Erkennen von Tönen auf echten, besonders dem eigenen, vertrauten Instrument, ist oft einfacher, weil es viel mehr Informationen enthält, z.B. über die Instrument- und Tonhöhenregister-spezifischen Klangfarben (z.B. leere Saiten, Töne mit guter vs. schlechter Resonanz). Diese zusätzlichen Informationen helfen, die Höhe eines Tones einzuschätzen. Es ist deshalb häufig so, das selbst "echte" Absoluthörende auf ihrem eigenen Instrument besser abschneiden, als auf ihnen fremden Instrumenten.

Trotzdem ist nicht jede:r der oder die Töne auf dem eigenen Instrument benennen kann Absoluthörer:in. Das gilt besonders für Sänger:innen, denn das Muskelgedächtnis spielt beim Musizieren eine entscheidende Rolle und Sänger:innen haben im Gegensatz zu Instrumentalist:innen keine visuelle Kontrolle des Lagegefühls der beteiligten Körperteile. Aber auch Instrumentalist:innen "fühlen" oft in den Muskeln, wo in etwa auf dem Instrument sich ein Ton befinden muss, wenn sie diesen nur hören. In der Wissenschaft behandelt man dies daher unter dem Begriff "pseudo-absolutes Gehör". Ein genuines ("echtes" absolutes Gehör) ist dagegen unabhängig von der Klangquelle, auch wenn die Genauigkeit trotzdem bei vertrauten Instrumenten meist sehr viel besser ist. Am einfachsten erkennt man schon an der Beschreibung, ob jemand absolut hört. Absoluthörende wissen meistens lange gar nicht, dass sie etwas können, das nicht jeder kann, und es ist für sie völlig natürlich. Sie konnten schon immer Noten nach Gehör bennen, und sie brauchen nicht lange nachdenken - sie "wissen" es einfach.

Häufig kommt auch das sogenannte "partielle absolute Gehör" vor, das heisst, dass bestimmte Töne besser erkannt bzw. generiert werden können, als andere. Selbst sehr genaue Absoluthörende sind meistens bei schwarzen Tasten - insbesondere A# oder G# (weil sehr nah nehmen dem Stimmton A) - unsicherer, ungenauer oder verwechseln Oktaven. Auch in den sehr hohen und sehr tiefen Registern sind die Meisten nicht mehr so gut im Töne erkennen. Manche Absoluthörende erkennen tatsächlich auch nur einzelne, spezifische Töne. Nur den Stimmton erkennen zu können ist dagegen kein absolutes Gehör, denn diese Fähigkeit ist wiederum durch sehr viele kontextabhängige Trigger (z.B. Beginn des Übens, der Probe, des Konzerts) so eng mit der Bewegung und Wahrnehmung verknüft und so stark begrenzt, dass man es nicht als generell absolut bezeichnen kann.

Ganz selten ist absolutes Gehör so absolut und - wie der englische Begriff "perfect pitch" suggeriert - perfekt, dass eine Person völlig unabhängig vom Instrument alle Töne gleich genau erkennt und sogar Geräusche tonal einordnen kann. Nicht selten kommen solche Spezialbegabungen jedoch bei Autismus vor (siehe #7 Warum haben Menschen mit Autismus häufiger ein absolutes Gehör? ).

#2: Ist absolutes Gehör angeboren?

Nach bisherigem Forschungsstand ist die Entwicklung des absoluten Gehörs vermutlich abhängig sowohl von frühem musikalischem Training vor dem Alter von 7 Jahren, als auch von genetischen Faktoren. Mein weiss aus Studien mit Zwillingspaaren, die getrennt aufgewachsen sind, dass selbst bei unterschiedlicher musikalischer Bildung in 8-15% der Fälle beide Geschwister ähnlich gut absolut hören. Auch in den Familien von Absoluthörenden finden sich häufig schon Verwandte in früheren Generationen, die absolut hörten. Allerdings belegen sehr viele Studien, dass absolutes Gehör deutliche häufiger vorkommt, wenn vor dem Alter von 7 Jahren mit dem Musizieren begonnen wird und je früher, desto wahrscheinlicher. Laut einer Studie sind es bei jenen, die mit 4 Jahren beginnen, bis zu 90%, zumindest jedoch 30-60%. Viele Wissenschaftler:innen argumentieren daher für die Theorie, dass frühes musikalisches Training für den Erwerb bzw. Erhalt des absolute Gehörs genauso notwendig ist, wie eine genetische Veranlagung. Der Effekt des frühen musikalischen Trainings spricht dafür, dass sich absolutes Gehör in einer sensitive Entwicklungsperiode des Gehirns ausbildet, die mit der sensitiven bzw. kritischen Phase für Sprachentwicklung im Kindesalter überlappt. Auch für die Entwicklung der Sprachfähigkeiten ist Lernerfahrung und Hörfähigkeit vor dem Alter von 7 Jahren notwendig. Absolutes Gehör ist daher vermutlich zumindest zum Teil abhängig von früher Erfahrung mit musikalischen Tönen und ihren Tonnamen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass genetisch bedingt, z.B. bei genetisch veranlagten Entwicklungsstörungen wie Autismus und dem Williams Syndrom, das Alter des Beginns musikalischen Trainings nicht so entscheidend ist. Dies könnten ein Hinweis darauf sein, dass bei entsprechender genetischen Veranlagung für absolutes Gehör oder Varianten neurologischer Vernetzung im Gehirn die sensible Phase weniger entscheidend oder in höheres Alter verlängert ist. Übrigens kann sich absolutes Gehör auch auf fremden Instrumenten verbessern, wenn begonnen wird, dieses Instrument zu lernen ("partielles absolutes Gehör" siehe #1: Habe ich ein absolutes Gehör und wie kann ich es testen ) - ein Hinweis, dass zumindest Generalisierung bei schon etabliertem absolutem Gehör auch in höherem Alter noch möglich ist.

#3: Stimmt es, dass alle Menschen als Absoluthörende auf die Welt kommen?

Da der frühe Beginns musikalischen Trainings eine so grosse Rolle dabei spielt, ob jemand absolut hört oder nicht (siehe #2: Ist absolutes Gehör angeboren?), liegt es nahe sich zu überlegen, ob wir nicht ursprünglich alle diese Fähigkeit besitzen, wenn wir geboren werden. Verlieren wir sie einfach in der Regel, wenn wir zu später mit dem musikalischen Training beginnen?

Tatsächlich konnte eine Studie der Psychologin Jenny R. Saffran zeigen, dass Kinder im Alter von 8 Monaten Melodien absolut hörten, denn sie reagierten in einem Experiment überrascht, wenn eine Dreitonmelodie transponiert wurde. Vergleichbare Studien konnten den Effekt replizieren und zeigten, dass Erwachsene sich bei ähnlichen Versuchen vor allem von relativen Tonhöheninformationen leiten liessen, während bei Kindern die absoluten Strategien noch dominierten. Warum könnte es also sein, dass wir alle als Absoluthörende auf die Welt kommen, die Fähigkeit jedoch wieder verlieren?

Die "perceptual shift theory" vermutet, dass die sensible Phase für die Entwicklung des absoluten Gehörs (siehe #2: Ist absolutes Gehör angeboren?) zu einer Entwicklungsphase der Kindheit gehört, in der Kinder zunächst noch eine Tendenz haben, ihre Wahrnehmung auf einzelne Aspekte der Umwelt zu richten. Etwa um das Alter von 6 oder 7 Jahren herum, also gegen Ende dersensiblen Phase für das absolute Gehör, findet ein Entwicklungssprung statt und die Kinder fangen an mehr holistisch, also ganzheitlich, wahrzunehmen. Die Detailaspekte der Umgebung werden dann in der Wahrnehmung zu einem Ganzen integriert und Teile aufgenommer Informationen relativ zueinander verarbeitet. Ab diesem Zeitpunkt wird daher die Entwicklung von absolutem Gehör weniger wahrscheinlich.

#4: Hören Asiat:innen häufiger absolut, weil sie tonale Sprachen sprechen?

Zunächst muss man dazu sagen, dass nicht alle asiatischen Sprachen tonale Sprachen sind, in welchen die Bedeutung der Worte von der gesprochenen Tonhöhe abhängt. Während Chinesisch eine tonale Sprache ist, sind es Japanisch und Koreanisch nicht. Viele Studien zeigen, dass absolutes Gehör bei asiatisch-ethnischem Hintergrund häufiger vorkommt. Dieser Effekt wurde jedoch genauso bei solchen asiatischen Ethnien gefunden, die keine tonale Sprachen haben, sowie bei englischsprachig aufgewachsenen Asiatinnen. Ausserdem ist in tonalen Sprachen häufig der Tonhöhen-Verlauf relevanter als die absolute Tonhöe. Es muss also andere Gründe geben. Sehr wahrschienlich sind besonders Umweltbedingungen als Grund für die höhere Prävanlenz von absolutem Gehör unter Asiat:innen anzuführen: Im asiatischen Raum wird zum einen häufig deutlich früher mit dem Musikunterricht begonnen (um 3-4 Jahre), also schon deutlich vor Ende der für das absolute Gehör vermutlich relevanten sensiblen Entwicklungsperiode (siehe #2:Ist absolutes Gehör angeboren?). Zum anderen werden in jenen Ländern häufig Unterrichtsmethoden verwendet, die Solmisation und explizites Notennennen trainieren oder nach Gehör unterrichten (z.B. Suzuki). Bei der Bedeutung von tonalen Sprachen handelt es sich also um einen weit verbreiteten Mythos über das absolute Gehör.

#5: Stimmt es, dass man das absolute Gehör trainieren kann?

Schon nach einer kurzen Suchanfrage im Internet finden sich haufenweise Angebote von Trainings, bei deinen man ein absolutes Gehör erlernen können soll. Meiner Meinung nach sind diese Trainings reine Zeit- und Geldverschwendung und man sollte diese lieber in sinnvolle Gehörbildung investieren. Denn bisher konnten keine Studien belegen, dass absolutes Gehör bei Erwachsenen erfolgreich und nachhaltig trainiert werden konnte. Lediglich bei Kindern gibt es Studien, vorwiegend aus Asien (z.B. an der japanischen Yamaha Music School), da hier viele Musikschulen und Unterrichtsmethoden nach Gehör, Imitation und mit dem Singen von Notennamen unterrichten (siehe auch #4:Hören Asiat:innen häufiger absolut, weil sie tonale Sprachen sprechen?). Bei geeigneten Methoden können Kinder anscheinend im Alter von 3-6 Jahren erfolgreich und dauerhaft absolutes Gehör lernen, auch wenn der erzielte Erfolg individuell stark variiert - vermutlich aufgrund von Motivation, Anleitung und genetischen Faktoren (siehe #2:Ist absolutes Gehör angeboren?). Anekdoten von einzelnen Erwachsene, die sich mit jahrelangem Training das absolute Gehör beigebracht haben, halte ich überwiegend für verglichen mit dem Aufwand unangemessene Übertreibungen. Der Nutzen des absoluten Gehörs - mal ganz abgesehen von seinen Nachteilen - ist nicht so gross, dass es sich lohnt, jahrelang und stundenlang am Tag Notennamen zu rezitieren und fast immer begrenzt sich solch ein Übeerfolg auf wenige Noten auf dem eigenen Instrument. Wissenschaftlich gesehen kann man hier wohl kaum von absolutem Gehör, sondern eher von Klangfarbengedächtnis sprechen (siehe #1: Habe ich ein absolutes Gehör und wie kann ich es testen?). Viel sinnvoller ist es, die Zeit in das Auswendiglernen von Musikstücken oder sinnvolle Gehörbildung zu stecken, wie z.B. Akkord-, Harmonie- und Intervalltraining. Jene sind auch die Facetten, die für die musikalische Praxis von Bedeutung sind.

#6: Sind Absoluthörer:innen musikalischer oder intelligenter?

Im Musikbereich hält sich hartnäckig die Meinung, eigentlich alle grossen bekannten Musiker:innen der aktuellen Zeit wie auch früherer Generationen seien Absoluthörende (gewesen). Die implizite Annahme, je höher der musikalische Erfolg, desto beeindruckender die musikalischen Fähigkeiten lässt das absolue Gehlör nicht aus. Tatsächlich konnten aber bisher keine Studien belegen, das Absoluthörende über die Tonidentifikation hinaus generell musikalischer seien. Ähnlich wie das Phänomen von sehr jungen Musiktalenten ("Wunderkindern") oder sogenannten "Inselbegabungen" bei Autismus (z.B. extreme Rechenfähigkeiten), fasziniert die seltene Fähigkeit absolutes Gehör so sehr, dass sie und ihre Besitzer in die Kategorie "genial" und "besonders begabt" eingeordnet werden, und implizit angenommen wird, diese Menschen seien "Genies", also in mehreren Bereichen besser als "normalsterbliche" Personen. Genau wie bei "Wunderkindern", die sehr früh sehr hohe musikalische Leistungen erbringen, ist jedoch ein Absolutes Gehör kein Garant für eine musikalische Karriere oder die weitere musikalische Entwicklung. Weil absolutes Gehör umso wahrscheinlicher ist, je früher in der Kindheit mit dem musikalischen Training begonnen wird (siehe #2:Ist absolutes Gehör angeboren?), und frühes musikalisches Training auch ein Prädiktor für gute musikalische Leistungen ist, sind viele Fälle von absolutem Gehör unter professionellen Musiker:innen eher darauf zurück zu führen, dass sehr viele von diesen sehr früh mit dem musikalischen Training angefangen haben. Früher musikalischer Beginn alleine ist aber genauso kein Garant für musikalischen Erfolg, denn Umweltfaktoren, das richtige Üben und Talent spielen auch hier eine grosse Rolle. Es gibt daher genauso auch erfolglose Frühstarter wie erfolgreiche Spätzünder.

Absolutes Gehör kann ausserdem sogar in manchen Situationen von Nachteil sein (siehe #8: Stimmt es, dass sich das absolute Gehör verstimmen kann? und #9:Stimmt es, dass Absoluthörende Schwierigkeiten mit Intervallen, Transposition und historischer Stimmung haben?). Es gibt zudem keine Studien die belegen könnten, dass absolutes Gehör Vorteile in anderen musikalischen Fähigkeiten oder Hörfähigkeiten mit sich bringt. Selbst wenn einige Personen ihr absolutes Gehör als Strategie für Gehörbildungsaufgaben nutzen können oder Harmonie-Töne leicht erkennen können, so können dies ausgebildete Musiker:innen mit geschultem relativen Gehör meist genauso gut und manchmal sogar besser (siehe #9:Stimmt es, dass Absoluthörende Schwierigkeiten mit Intervallen, Transposition und historischer Stimmung haben?). Nicht zu letzt sind andere musikalische Aspekte wie Phrasierung, Klanggestaltung, emotionale Gestaltung, Kreativität, Bühnenpräsenz, Motorik, Ausdauer usw. für den Musiker:innen-Beruf und den Bühnenerfolg mindestens genauso wichtig. Oft wird auch vergessen, dass viele herausragende Musiker:innen und Komponist:innen kein absolutes Gehör haben bzw. hatten z.B. Robert Schumann und Richard Wagner.

#7: Warum haben Menschen mit Autismus häufiger ein absolutes Gehör?

Mit der Frage von Gemeinsamkeiten (kognitiver, neuropsychologischer und charakterlicher Art) von Absoluthörenden und Menschen mit Autismus habe ich mich in meiner Doktorarbeit beschäftigt. Extrem genaue und beeindruckende Fähigkeiten von absolutem Gehör werden gelegentlich in Einzelfallberichten und Studien von Entwicklungsstörungen, besonders Autismus und dem Williams-Syndrom berichtet. Ausserdem haben vor Beginn meiner Doktorarbeit zwei Studien von vermehrten autistische Persönlichkeitsmerkmale bei MusikerInnen mit absolutem Gehör berichtet. Darüber hinaus wurde in mehreren Untersuchungen beider Populationen ähnliche Gehirnkonnektivität in Bezug auf Über- und Unterkonnektivität des Gehirns gezeigt.

Autismus umfasst eine Reihe von Entwicklungsstörungen, deren Symptome hauptsächlich soziale Bereiche betreffen. Autistische Personen zeigen Probleme mit sozialer Interaktion und Kommunikation, repetitive Verhaltensweisen, restriktive Interessen und Hyper- oder Hyposensitivitäten der Sinne. Verschiedene Theorien des Autismus versuchen, die Symptome mit einer Tendenz zu Reizgesteuerten Wahrnehmung (Bottom Up), gesteigerten Wahrnehmungs- bzw. Sinnesfähigkeiten und einer Fokussierung auf Details zu erklären. Zu diesen Theorien gehören die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz, die Theorie der gesteigerten Wahrnehmungsfunktionen und die Theorie des Hypersystematisierens. Da sich die kritische Periode für die Ausbildung des absoluten Gehörs mit einer Periode der detailorientierten Wahrnehmung während der normalen kindlichen Entwicklung überschneidet (s. #3: Stimmt es, dass alle Menschen als Absoluthörende auf die Welt kommen? ), könnte ein detailorientierter "kognitiver Stil", d.h. die Veranlagung, eingehende sensorische Informationen auf eine bestimmte Weise zu verarbeiten, als gemeinsamer Rahmen für die Erklärung der Ähnlichkeiten dienen.

In meiner Forschungsarbeit habe ich genau das anhand von Berufsmusiker:innen und Musikstudierenden untersucht. Im Allgemeinen zeigten Absoluthörende mehr autistische Merkmale als Relativhörende, was die Ergebnisse aus vorherigen Studien repliziert.

Absoluthörende haben ausserdem in Tests besser abgeschnitten, in denen Sie musikalische Details heraushören mussten und sich nicht vom musikalischen Kontext ablenken lassen durften. Die beobachteten Effekte legen nahe, dass Absoluthörende im Vergleich zu Relativhörenden tendenziell eine stärker auf Details ausgerichtete Verarbeitung und eine weniger kontextbezogene Integration besitzen.

In Messungen der Gehirnaktivität (Elektroenzephalographie) zeigte sich ausserdem, dass bei Absoluthörenden weniger Kommunikation zwischen weit entfernten Gehirnarealen und den beiden Hirnhälften stattfindet. Ähnliches wird regelmässig in Studien zu Autismus berichtet und unter den Begriffen Integrationsdefizit bzw. Unterkonnektivitäts-Hypothese zusammengefasst. Je höher die Ausprägung der autistischen Züge in meiner Studie bei Proband:innen war, desto stärker ausgepägt waren in der Regel auch diese Merkmale.

Diese Merkmale sind natürlich bei weitem nicht so extrem ausgepägt wie bei Autismus, denn keine meiner Proband:innen hatte eine diagnostizierte Autismus-Spektrum-Störung. Doch sie zeigen Gemeinsamkeiten zwischen beiden auf, die vermuten lassen, dass es zumindest eine Überlappung genetische Prädisposition gibt, z.B. wenn es um die Ausbildung von Verbindungen im Gehirn oder den Wahrnehmungsstil sowie bestimmte Persönlichkeitsmerkmale geht.

#8: Stimmt es, dass sich das absolute Gehör verstimmen kann?

Viele Personen mit absolutem Gehör nehmen Töne höher wahr, als sie tatsächlich sind. Sie benennen daher Töne chronisch ein oder zwei Halbtöne zu hoch oder spielen sie nach Gehör tiefer, als sie tatsächlich zu spielen wären. Die Neigung zu einem "fehlerhaft gestimmten" absoluten Gehör nimmt mit dem Alter zu und wenn die musikalische Aktivität abnimmt. Dies ist also ein weiterer möglicher Nachteil von absolutem Gehör.

Regelmässig musikalische Aktivität, insbesondere mit externer Referenz wie Stimmgerät oder Musikpartner:innen, kann helfen, das Ton-Label-System stabil zu halten. Dass sich das Gehör verstimmt ist jedoch nicht spezifisch für Absoluthörende. Auch Personen ohne absolutes Gehör durchlaufen diese Veränderung, denn sie hängt eng mit physiologischen Veränderungen im Innenohr, die insbesondere mit dem Altern einhergehen, zusammen. Dadurch, dass die Basilarmembran im Innenohr, auf welcher sich die Haarzellen, die die Frequenz der Töne kodieren und ans Gehirn senden, befinden, mit dem Alter elastischer wird, verschiebt sich die Repräsentation der Töne. Die selben Töne regen dann andere Nerven an und diese Erregen andere Nervenzellen im Gehirn. Der Ton wird für einen anderen gehalten. Bei Personen ohne absolutes Gehör passiert das genauso, sie merken es nur nicht an Notennamen. In sehr ungünstigen Fällen kann sich das absolute Gehör auch ungleichmässig verstimmen, besonders wenn auf beiden Ohren unterschiedlicher Hörverlust besteht oder ein Hörsturz auf einem Ohr erlitten wird. Entweder werden Töne dann auf beiden Ohren unterschiedlich hoch wahrgenommen (Diplakusis) oder - unter Umständen allein durch die Elastizitätsprozesse bedingt - es werden Töne je nach Tonhöhe unterschiedlich weit vom richtigen Ton entfernt geschätzt. Es ist jedoch unklar, wie häufig solche Fälle bei Musiker:innen mit absolutem Gehör aber ohne Hörverlust mit dem Alter auftreten.

#9: Stimmt es, dass Absoluthörende Schwierigkeiten mit Intervallen, Transposition und historischer Stimmung haben?

Viele Personen mit absolutem Gehör berichten Schwierigkeiten beim Singen oder Spielen in der richtigen Tonhöhe oder beim korrekten Spielen von Noten, wenn es erforderlich ist, eine Melodie oder ein Musikstück zu transponieren oder in historischer Stimmung zu spielen. Studien konnten auch zeigen, dass es möglich ist, das absolute Gehör der Teilnehmenden zu "verstimmen" in dem Musikstücke chronisch über die Zeit in der Tonhöhe verändert wurden.

Echte Absoluthörende haben Töne so natürlich mit Notennamen verknüft, dass sie diese sehr schnell wissen und wiedergeben können. Es überrascht daher nicht, dass viele Absoluthörende Intervalle erkennen, indem sie zuerst die einzelnen Töne entziffern und dann daraus das Intervall "berechnen". Für viele ist es daher schlicht nicht notwendig, die Höreigenschaft von Intervallen erkennen zu lernen. Daher fehlt Personen mit absolutem Gehör möglicherweise die Fähigkeit, auf der Grundlage von Intervallen (relatives Gehör) zu singen bzw. zu spielen, anstatt sich auf absolute Tonhöhen-Hinweise zu verlassen. Tatsächlich schnitten Personen mit absolutem Gehör schlechter ab, wenn sie Intervalle benennen sollten, bei denen die erste Note falsch gestimmt war. Dasselbe gilt für den Vergleich von Melodien (in Bezug auf die Ähnlichkeit der Intervalle), wenn die Melodien in verschiedene Tonarten transponiert werden. Wenn die Intervalle jedoch nicht ungewöhnlich gestimmt sind, übertreffen Personen mit absolutem Gehör Personen mit relativem Gehör unabhängig von Klangfarbe, Tonart oder ob zuvor ein tonaler Kontext gegeben wurde. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Personen mit absolutem Gehör bei der Beurteilung von Tonintervallen auf Tonhöhenchroma und die entsprechenden Tonhöhen-Labels angewiesen sind und mit diesem zusätzlichen Hinweis Personen mit relativem Gehör übertreffen können. Wenn jedoch Intervalle oder Melodien in ungewöhnlicher Erscheinung präsentiert werden (z.B. unterschiedliche Stimmung), kann die Erkennung von Intervallen beeinträchtigt sein, wenn relatives Gehör nicht ausreichend geschult ist oder das absolute Gehör irritiert.

#10: Hast du selbst ein absolutes Gehör?

Jein. Ich bin Synästhetin. Synästhesie ist allgemein die Veranlagung, verschiedene Sinneserlebnisse wie das Hören und das Sehen, miteinander zu verknüpfen. Dazu werde ich bestimmt einmal einen gesonderten Beitrag machen. In Kürze: Synästhesie ist ungefähr genauso selten wie absolutes Gehör und meistens hat eine Person gleich mehrere Synästhesie-Formen. Ich habe unter anderem eine Ton-Farb-Synästhesie. Welche Sinne verknüpft sind und die spezifische Zuordnung, z.B. welcher Ton zu welcher Farbe, ist dabei sehr individuell. Der gleiche Ton mag für mich blau sein, für jemand anderen rot. Manche nehmen die zugehörige Sinnesempfindung z.B. die Farbe in Raum, auf dem Objekt bzw. als echtes Körpergefühl war ("Projektoren"), andere im Kopf bzw. nur in der Vorstellung ("Imaginatoren"). Wenn die Zuordnung bei einer musikalischen Synästhesie sehr kategorisch ist, wie also beim absoluten Gehör jedes G rot ist, jedes A blau und jedes C schwarz, dann ist diese Synästhesie-Form quasi ein visuelles absolutes Gehör, und die Person schneidet vergleichbar in Absoluthör-Tests ab.

Meine Synästhesie ist jedoch stark durch Obertöne dominiert und damit vielschichtiger bzw. komplexer. Die Tonfarbe setzt sich meist aus dem Grundton und den ersten drei Obertönen (Oktave, Quinte, Quarte), wobei die Farben der Grundtöne und mittleren Oktaven (auch als Obertöne) dominieren. Ein tiefes Cello G ist zum Beispiel dunkelrot mit etwas grün (Grundton rot, Oktave grün, Quinte beige, Quarte/2.Oktave rot). Das ganze ist zudem bei anderen Instrumenten teilweise durch Klangfarben verändert (vor allem in Helligkeit und Textur). Die Stimmung des Instruments sowie die genaue Tonhöhe innerhalb der Kategorie wird auch noch durch Helligkeit und Farbverläufe bestimmt. Aus diesen Grünen ist G je nach Oktave nicht immer rot und rot ist auch nicht immer G, denn E, C und Es sind genauso oft rot und auch A, und H können rot enthalten. Auch Harmonien und Akkorde können gesonderte Extra-Farben haben (Quarten sind z.B. oft blau). Meine Synästhesie ist daher in der Zuordnung nicht eindeutig und basiert auch nicht nur auf absoluten Musik-Aspekten, es ist also per Definition kein absolutes Gehör. Das Phänomen, dass die gehörten Farben nicht mehr zu den notierten passen wenn der Chor in der Tonhöhe sinkt oder anders gestimmt wird, kenne ich jedoch sehr gut. Und genau wie bei Absoluthörenden hatte ich diese Synästhesie schon seit ich denken kann und nehme die Farben völlig ohne nachzudenken war. Nachdenken schadet im Gegenteil der Wahrnehmung eher. :-)

Bald mehr zu Synästhesie - Stay tuned!


Hören Tiere absolut?


Tiere hören bekanntlich häufig besser als Menschen, zumindest was den Frequenzbereich und die Hörschwellen angeht. Einige Tierarten wurden zudem daraufhin untersucht, ob sie absolute oder relative Tonhöhen-Informationen hören bzw. zur Kommunikation benutzen. Dabei konnten Studien zeigen, dass zum Beispiel Wölfe und Ratten Gruppenmitglieder anhand von absoluten Tonhöheninformationen erkennen. Stare und Rhesusaffen sind diesen Tieren gegenüber weiter fortgeschritten: sie nutzen primär absolute Tonhöhen-Informationen, können aber relative Informationen benutzen und Affen können auch Oktaven als äquivalent erkennen - eine besonders hoch entwicklete Fähigkeit des relativen Gehörs. Das das absolute Gehör bei Tieren die Regel ist und meist nur höher entwickelte Tiere auch besonders relative Tonhöheninformationen berücksichtigen ist ein weiteres Indiz dafür, das relatives Gehör die eigentlich wichtigere Fähigkeit für Menschen ist. Dies kann auch ein Grund sein, warum für Menschen Musik eine so hohe Bedeutung hat: Musik besteht nunmal aus Melodien und Melodien sind per Definition relativ, denn es kommt darauf an, wie die Töne zueinander stehen.

Meine Katze Smilla erkennt meine Stimme und meine Schritte übrigens schon aus grosser Entfernung. Ob sie dazu relative oder absolute Informationen nutzt, kann ich jedoch leider nicht sagen.


Quellen und weiterführende Literatur


  • Altenmüller, E., & Klöppel, R. (2015). Die Kunst des Musizierens: von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis. Schott Music.

  • Hulse, S. H., & Cynx, J. (1985). Relative pitch perception is constrained by absolute pitch in songbirds ( Mimus, Molothrus, and Sturnus ). Journal of Comparative Psychology, 99(2), 176–196.

  • Wenhart, T., Bethlehem, R. A., Baron-Cohen, S., & Altenmueller, E. (2019). Autistic traits, resting-state connectivity, and absolute pitch in professional musicians: shared and distinct neural features. Molecular autism, 10, 1-18.

  • Wenhart, T., & Altenmüller, E. (2019). A tendency towards details? Inconsistent results on auditory and visual local-to-global processing in absolute pitch musicians. Frontiers in psychology, 10, 31.

  • Wenhart, T., Hwang, Y. Y., & Altenmüller, E. (2019). Enhanced auditory disembedding in an interleaved melody recognition test is associated with absolute pitch ability. Scientific reports, 9(1), 7838.

  • Wenhart, T. (2019). Absolute pitch ability, cognitive style and autistic traits: a neuropsychological and electrophysiological study (Doctoral dissertation, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover).

  • Wright, A.A. et al. (2000) Music perception and octave generalization in rhesus monkeys. J. Exp. Psychol. Gen. 129, 291–307



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