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Die Hitparade der inneren Kritiker bei Musikern – und wie du sie zum Schweigen bringst

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Der Satz ‚Ich bin nicht gut genug‘ ist ein hartnäckiger innerer Kritiker bei Musikern, der sie beim Üben, auf der Bühne oder im Vergleich mit anderen immer wieder begleitet. In diesem Artikel geht es um die psychologischen Hintergründe innerer Kritiker bei Musikern, warum positive Affirmationen oft nicht ausreichen und welche wirkungsvollen Techniken Musiker:innen helfen können.


Innere Kritiker bei Musikern

Alle Inhalte dieses Blogs sind mit viel Herz und Zeit entstanden und basieren auf fundierter Ausbildung, jahrelanger Erfahrung sowie sorgfältiger Reflexion. Wenn du sie in deiner Arbeit nutzt, freue ich mich über eine Quellenangabe – das fördert Transparenz und fachlichen Austausch in unserem Netzwerk.

Alternativ kannst du dich natürlich auch an KI wenden – dort fällt die Einordnung meist etwas weniger differenziert aus, auch wenn sie mittlerweile schon auf diesen Blog verweist.


Innere Kritiker bei Musikern - Die Hitliste


Grundsätzlich sind innere Kritiker:innen völlig normal, jeder hat welche, auch Nicht-Musiker:innen oder wie Michael Jackson sang: "You are not alone". Welcher Hit läuft gerade auf deinem inneren Plattenspieler in Dauerschleife? Wir werden später dazu kommen, warum es sich trotzdem lohnt, die Ursprünge anzusehen und daran zu arbeiten, die inneren bellenden Hunde zu zähmen.


In meiner Arbeit mit professionellen Musiker:innen und Musikstudierenden begegnen mir die unterschiedlichsten Charaktere innerer Kritiker:innen und bisher ist mir auch abseits des Berufs noch niemand begegnet, der keine negativen Glaubenssätze hat oder selbstkritisch mit sich ins Gericht geht. Manchmal ist das sehr subtil, manchmal offensichtlich, fast schon auto-aggressiv und manchmal richtet es sich scheinbar gegen aussen. Bei letzteren wüten häufig die strengsten und gemeinsten inneren Abwerter:innen.


Hier die kommt die Hitliste der besonders häufig vorkommende innere Kritiker:innen in den Köpfen von Musiker:innen (anonyme, echte Aussagen aus Coaching und Beratung, sowie einer Umfrage unter Musikstudierenden):


  • Perfect Peter: "I am not good enough for this", "Why am I constantly stumbling upon the same things", "My teacher/parents will be disappointed", "My teacher thinks I am not good enough to become a professional musician", "The student is not making progress, I cannot teach this good enough."


  • Comparison Claudia: "I know nothing compared to others", "There are so many others that are better", "I sound like an amateur"


  • Devaluing David: "Why do I feel panic, it is not going to help to cry", "I hate my sound, how come I can't even produce a decent sound", "Why am I so slow/out of tune/cramped etc.", "My bowhold is weird, I can't even bow straight", "I am a bad <player of your instrument>", "Everyone will think I am playing really bad", "I am a bad teacher"


  • Embarrassed Etsuko: "Do other people think I should have choosen a different instrument/profession?", "I am not even capable of practicing, who am I fooling","This is embarassing", "What does the teacher think of me?", "What are they thinking of me?",  "I make weird movements with my head", "The other teachers think my students are the worst/not making progress."


  • Sceptical Sandra: "I can't do it", "Is the tempo, phrasing, intonation etc. correct?", "I will never be able to work, because I need a minimum level of technique to be asked for gigs"


  • Guilty Giovanni: "I am so ungrateful/demanding, it is a privilige to make music as a profession", "I do not deserve success", "I did not practice enough", "It is my fault, that the students make no progress", "My parents/teacher did so much for me, I owe it to them", "If I do not win the competition/become a soloist/play this concert without mistake I do not deserve to be loved"



Woher sie kommen


Vergleich mit anderen:


Ein wesentlicher Grund für die verzerrte Selbstwahrnehmung liegt in der menschlichen Neigung zum Vergleich. Menschen vergleichen sich häufig mit anderen, die sie als erfolgreicher oder besser wahrnehmen und Musiker:innen sind hier keine Ausnahme. In der Sozialpsychologie nennt man diesen gut erforschten Effekt "Comparison Bias" (Festinger, L. (1954).


Negativity Bias:


Negative Informationen wirken sich um ein Vielfaches stärker auf Psyche und Gehirn aus, sie werden z.B. besser im Gedächtnis gespeichert. Es braucht um ein vielfaches mehr positive Erlebnisse oder Aussagen um eine negative zu relativieren*. Dieser Negativity-Bias macht evolutionsbiologisch Sinn, denn z.B. Gefahren besser zu merken war für unsere Vorfahren zur Zeit der Jäger und Sammler überlebenswichtig. In einem Hochleistungs-umfeld wie dem Musik-Business wird aber besonders viel und leider auf manchmal nicht besonders konstruktiv kritisiert. Ausserdem hat man hat in der Regel mehr Misserfolge als Erfolge, das liegt in der Natur des Wettbewerbs. Beide Faktoren verstärken den Negativity-Bias.


*Das ist im Übrigens besonders in sozialen Beziehungen belegt.


Lernen am Modell

Kinder lernen wesentlich am Modell von Erwachsenen, z.B. durch Imitation von Verhalten (Bandura, A. (1977)). Alle Menschen haben eine persönliche Sicht, wie die Welt funktioniert und - wie schon gesagt - eigene innere Kritiker:innen. Durch verbales und nonverbales Verhalten spiegeln Eltern, aber auch andere Bezugspersonen wie Lehrkräfte, Kindern ihre Sicht der Welt wieder. Kinder übernehmen daher häufig Ängste von Eltern. Auch innere Kritiker:innen wie Perfect Peter oder Comparison Claudia können werden häufig unbewusst von Erwachsenen kopiert. Dazu müssen die Bezugspersonen nichtmal selbst die Sätze "Du bist nicht gut genug" oder "Die anderen können das sowieso besser" aussprechen (auch wenn das leider nicht selten vorkommt, s. ungünstige Pädagogik), es reicht auch, wenn die Kinder beobachten, dass die Erwachsenen selbst nicht sich selbst nichts zutrauen, oder Dritte abwerten.


Ungünstige Pädagogik

Viele Menschen erleben, besonders in ihrer Jugend, eine unsichere pädagogische Umgebung: autoritäre Lehrer:innen, überkritische Eltern oder entmutigendes Feedback. Solche Erfahrungen können nachhaltige Spuren im Gehirn hinterlassen. Wenn Musiker:innen bereits in jungem Alter regelmässig kritischen Rückmeldungen, vor allem unkonstruktiv vermittelter Kritik, ausgesetzt waren, tragen sie diese sehr harten, abwertenden inneren Stimme oft bis ins Erwachsenenalter mit sich und verstärken die Überzeugung "Ich bin nicht gut genug/nichts wert/werde es nicht schaffen". Wenn diese Personen diese Erlebnisse nicht nachträglich verarbeiten, geben sie diese Überzeugungen leider später unbewusst an ihre eigenen Schüler:innen (und Kinder) weiter - verbal wie nonverbal. Leider sind an vielen Musikhochschulen fälle von Mobbing oder emotionalen Missbrauch durch Lehrkräfte keine Seltenheit.  [Coaching für Musiker:innen]


viele selbst-verunsichernde Lebenserfahrungen

Neben Verinnerlichung von abgeschauten Überzeugung oder unangemessener, abwertender Kritik können auch wiederholte schwierige Lebenserfahrungen die Grundüberzeugungen in negativer Hinsicht prägen. Insbesondere zählen dazu Gewalt im Elternhaus, Mobbing, schulische oder berufliche Misserfolge die mit Bloßstellung (Scham) erlebt wurden (auch wenn dies niemand beabsichtigt hat), Individuelle Schwächen z.b. körperlicher oder kognitiver Art (z.B. körperliche Beeinträchtigung, Legasthenie, Stottern...), soziale Umstände wie Scheidung oder schwere Krankheit/Tod der Eltern sowie verpasste Lebenserfahrung (z.B. soziale Isolation bei "Wunderkindern", die selten in die Schule gehen). Alle diese Erfahrungen können das Gefühl erzeugen, mein sei nicht richtig oder sogar Schuld an etwas, sowie das allgemeine Vertrauen in die Welt und andere Menschen erschüttern. Hier ist es enorm wichtig, korrigierende Beziehungserfahrungen mit neuen, guten Bezugspersonen zu machen. Meist braucht es ausserdem die Unterstützung einer psychologische geschulten Fachperson. [Coaching für Musiker:innen]



Warum positive Affirmationen oft nicht reichen


Grundsätzlich sind Affirmationen, wie sie von vielen Coaches und Mentaltrainern gelehrt werden, eine hilfreiche Technik aus der positiven Psychologie. In dem man für sich hilfreiche Sätze definiert, die man den Kritiker-Stimmen gegenüber stellt (z.B. "Du wirst es nicht schaffen"--> "Ich habe genug gearbeitet und bin gut vorbereitet. Jetzt gebe ich mein Bestes und das ist genug") lenkt man das Gehirn auf positive Wortwahl. Die Wiederholung solcher Aussagen hilft oft, da sie ablenken, da das Unbewusste mithört und da viele Sätze auch leicht verkörpert werden, d.h. entspannend auf die Muskulatur und das Nervensystem auswirken (Embodiment).


Affirmationen alleine reichen aber meist nicht aus, weil:


  1. Kritik von außen: Die Musikindustrie ist knallhart in Bezug auf Wettbewerb und Konzertkritiken und negative Erlebnisse und Rückschläge gehören oft zum Alltag. (Laverty, M. (2017).) Diese externen Faktoren können die Wirkung positiver Affirmationen schwächen, da sie den Negativity-Bias verstärken.


  2. Nachhaltige neuronale Prägungen: Viele negativen Erlebnisse hinterlassen tiefere neuronale Spuren im Gehirn, insbesondere wenn sie bereits in Kindheit und Jugend bestehen (siehe oben: "Woher sie kommen"). Diese Spuren sind nicht leicht zu überwinden, weil sie so automatisch getriggert werden. (Phelps, E. A. (2004).). Kindheitserfahrungen sind deshalb so prägend, weil das Gehirn in sensiblen Phasen besonders plastisch ist - z.B. auch für das Erlernen einer Muttersprache oder des absoluten Gehörs, die sich auch nur sehr schwer unterdrücken lassen.


  3. Oberflächliche Änderungen: Oberflächliche Änderungen durch positive Affirmationen wirken oft wie Pflaster auf tiefe Wunden. Sie können kurzfristig helfen, aber das tief verwurzelte Gefühl bleibt bestehen (Beck, A. T. (1967)). Wenn der Grundstress oder der Trigger zu stark sind, laufen die ausgelösten, verinnerlichten Gedanken und Gefühle automatisch ab. Zudem ist es für viele wichtig, zunächst "Belege" zu sammeln, dass diese Behauptungen z.B. "Ich bin gut genug", "Ich muss nicht perfekt sein", auch stimmen, sonst fühlt es sich wie eine innere Lüge an, weil man als Kind gelernt hat, dass die Welt bzw. man selber "so ist". Hier helfen Selbstwert aufbauende Massnahmen und Stühledialoge sowie biografische Aufarbeitung aus der Schemaarbeit.


Techniken die helfen können


Drei Siebe des Sokrates


Eine der ältesten Techniken geht auf eine antike Anekdote zurück, die Sokrates zugeschrieben wird, auch wenn es nicht eindeutig belegt ist. Demnach sollte man jeden Tratsch, sowie Feedback oder Kritik anderer Personen durch "Die drei Siebe des Sokrates" filtern. dabei überprüft man die Aussage dreifach:


1.) Ist die Aussage wahr?

2.) Ist es etwas gutes bzw. tut mir die Aussage gut?

3.) Ist die Aussage nützlich?


Wenn eine der drei Fragen mit Nein beantwortet wird, sollte man die Aussage der Person filtern, also nicht beachten. Insbesondere um nützliche von unnützer Kritik zu unterscheiden oder angemessen verbalisiertes Feedback zu erkennen hilf diese Technik.


Akzeptanz

Der erste Schritt zur Überwindung der inneren Kritiker ist die Akzeptanz. Erkenne die Existenz dieser Stimmen an, statt sie zu verdrängen. In der Praxis kann dies durch gezielte Achtsamkeitsübungen und reflektierende Meditationen geschehen.


Distanz & Imaginative Techniken

Durch mentale Techniken, wie Imaginationsübungen, können Musiker:innen lernen, ihre kritischen Stimmen von einer Distanz zu betrachten oder mental zu verändern. Diese Dissoziation hilft, den Einfluss dieser Gedanken zu verringern und sie objektiver zu betrachten. Dies ist die beliebteste Übung bei den Musiker:innen, die ich bisher betreut habe. [Coaching für Musiker:innen]


zeitliche Begrenzung

Eine wirksame Methode ist es, den inneren Kritikern und negativen Gedankenschlaufen eine festgelegte Zeit im Tagesverlauf zu geben, an denen man sich bewusst mit ihnen beschäftigt. Dies kann helfen, die Anzahl der kritischen Gedanken zu begrenzen und Raum für positive Gedanken und Kreativität zu schaffen. Allerdings muss man dieses "Date" dann auch einhalten und individuell feststellen, wie viel es davon braucht.


nachhaltiger aufbau von gesundem selbstvertrauen

Ein nachhaltiger Aufbau von gesundem Selbstvertrauen durch beständige Selbst-Reflexion und positive Selbstverstärkung ist essenziell. Langfristig kann die regelmäßige Arbeit an dem Selbstbild durch gezielte Feedbackschleifen und Selbst-Comparison die innere Stärke festigen.


Self-Comparison

Sich eigene Ziele setzen und regelmässig darüber reflektieren, was gut war und an was noch gearbeitet werden sollte, ist sehr hilfreich um sich anzugewöhnen sich mit sich selbst, anstatt mit anderen zu vergleichen. Das kann in Form von Übe-Tagebüchern oder einer Agenda sowohl für den Übe-fortschritt, als auch für Reflektion über Konzerte oder Vorspiele durchgeführt werden.


Mehr lesen:



Wenhart T. Mental Stark, psychisch gesund - Konzeption von Schema-Workshops für Musiker:innen und Musiklehrkräfte. 2024 DOI: 10.13140/RG.2.2.21773.51686



Quellen


  • Festinger, L. (1954). A Theory of Social Comparison Processes. Human Relations.

  • Bandura, A. (1977). Social Learning Theory. Prentice Hall.

  • Laverty, M. (2017). The Realities of Rejection in the Music Industry. Journal of Music Business Research.

  • Phelps, E. A. (2004). The Human Amygdala and the Emotional Brain. Current Directions in Psychological Science.

  • Beck, A. T. (1967). Depression: Causes and treatment. University of Pennsylvania Press.




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