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"Sight over Sound" - psychologische Effekte bei der Beurteilung von musikalischer Performance

Aktualisiert: 9. Okt.

Was entscheidet, ob eine musikalische Performance als gelungen bewertet wird? Welche Rolle spielen visuelle Reize, die Reihenfolge und die Häufigkeit des Auftretens? Die allermeisten Prozesse unseres Gehirns laufen unbewusst und subjektiv hab. Dies bietet den Nährboden für psychologische Effekte bei der Beurteilung von musikalischer Performance: menschliche Wahrnehmungs- und Beurteilungs-Verzerrungen (Bias).



rosarote brille in herzform


Vergangenes Jahr (2022) las ich irgendwo im Internet - vermutlich auf Social Media - dass der Queen Elisabeth Wettbewerb für Cellist:innen stattfände. Ich selbst habe nie an einem Wettbewerb teilgenommen - nicht mal als Kind. Schon vor meinem Psychologie-Studium verstand ich nicht, weshalb künstlerische Darbietungen verglichen wurden, als ob es sich um einen 100 Meter lauf handelte. Entsprechend sagte mir der Name des Wettbewerb nichts, er stellte sich jedoch als einer der bekanntesten und herausfordernsten Wettbewerbe der Welt heraus. Aus Neugier beschloss ich, meine Vorurteile auf den Prüfstand zu stellen und gleichzeitig etwas von den Cellist:innen zu lernen. Ich wäre nicht ich, wenn ich daraus nicht ein kleines wissenschaftliches Experiment gemacht hätte. :-)


Studien über den Queen Elisabeth Wettbewerb

Ein:e gute:r Wissenschaftler:in geht natürlich nicht unvorbereitet in ein Experiment sondern betreibt vorab ausführliche Literatur-Recherche. Neben klassischen Studien zu Berurteilungsverzerrungen und psychologischem Bias fand ich heraus, dass über eben diesen Wettbewerb in Belgien bereits 1996 eine wissenschaftliche Untersuchung publiziert worden war. Unter dem Titel "The Queen Elisabeth Musical Competition - How fair is the final ranking" fassen die Autoren R. Flores und V. Ginsburgh ihre mathematischen - genauer statistischen - Untersuchungen zusammen.

Was viele nicht wissen ist, dass Psycholog:innen wie ich im Studium jahrelang mit Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung von Abiturniveau bis zur höheren Universitäts-Mathematik gequält (oder in meinem Fall fasziniert) werden. Also vertiefte ich mich gleich in die Analysen.

Kurz zusammengefasst: Die Autor:innen untersuchten mit Hilfe mathematischer Methoden 21 vergangene Jahrgänge des Wettbewerbs. Sie fragten sich, ob objektiv feststellbare Faktoren wie z.B. die Reihenfolge des Auftretens der Musizierenden einen Einfluss auf das Ranking hatten. Die Analysen ergaben, dass das Endergebnis des Wettbewerbs statistisch nicht unabhängig von der Reihenfolge ist. Einfach gesagt bedeutet das, mit bestimmten "Startnummern" hat man bei diesem Wettbewerb signifikant bessere Chancen auf Erfolg. Die besten Chancen hat man mit einer Startnummer an Tag 5, die schlechtesten mit einer Startnummer an Tag 1. Diese besseren Chancen liessen sich mathematisch nicht mit dem Zufall erklären. Aber mit Psychologie :-), siehe unten.

[Die Startnummern werden übrigens traditionell verlost, also kann man dem Wettbewerb zumindest keine willkürliche Beeinflussung vorwerfen. Es scheint mehr wie mein Skispringen zu sein, wenn der Wind schlecht steht, hat man eben nicht genug Aufwind und muss für die gleiche Weite mehr leisten.]


Wie lief mein "Experiment" ab?

Der Wettbewerb 2022 wurde live übertragen sowie aufgezeichnet und ich sah mir die komplette erste Runde mit 42 Cellist:innen an.

Soweit ich die Regeln richtig verstanden habe, bewertet jedes Jury-Mitglied in der ersten Runde die musikalische Gesamtleistung der Kandidat:innen mit einem Bewertung zwischen 0-100. Die Jury wird offenbar nicht nach konkreten einzelnen Parametern (Spieltechnik, musikalischer Ausdruck, Intepretation, Originalität etc.) gefragt. Es ist also relativ subjektiv, nach welchen Kriterien die Bewertung zwischen 0-100 zustande kommt. Ausserdem teilt jedes Jury-Mitglied mit Ja/Nein mit, ob es den/die Musiker:in in der nächsten Runde sehen möchte.

Ich hielt mich an die Art und Weise der Beurteilung der Jury und vergab für jede:n Kandidat:in eine Bewertung und ein Ja/Nein-Urteil. Dabei hielt ich die Reihenfolge der Beurteilung ein, musste jedoch manche Performance als Aufnahme zu anderer Tageszeit ansehen, da ich beruflich nicht immer zur Zeit des Live-Streams Zeit hatte. Mein Ziel war es, herauszufinden, ob ich mit der Jury in meinem Urteil zu grössten Teilen übereinstimmte.

Was war nun das Ergebnis meines Experimentes? Um es kurz zu sagen: Ich stimmte mit der Jury zwar in einigen Kandidat:innen überein. Die Anzahl der Übereinstimmung liess sich jedoch statistisch bzw. mathematisch durch den Zufall erklären. Natürlich bin ich bei Weitem nicht so qualifiziert in der Beurteilung wie die Jury-Mitglieder, ich muss mir jedoch zu Gute halten, dass ich zumindest selbst relativ erfahren auf dem Cello bin. Ausserdem bin ich seit Jahren erfahrenes Jury-Mitglied in der Auswahlkommission der Studienstiftung des deutschen Volkes. Dass ich nicht exakt die selben Kandidat:innen in der nächsten Runde sehen wollte, ist also wenig erstaunlich, aber dass ich nur zufällig mit der Jury übereinstimmte schon.

Wie kann man dieses Ergebnis nun psychologisch erklären?


Typische psychologische Effekte bei Beurteilung anderer Personen z.B. bei musikalischer Performance

Die allermeisten Prozesse unseres Gehirns laufen unbewusst und subjektiv hab. Dies bietet den Nährboden für menschliche Wahrnehmungs- und Beurteilungs-Verzerrungen (Bias). Die gute Nachricht ist: wie bei Vorurteilen (z.B. gegenüber anderen Kulturen, anderem Geschlecht, anderer sexueller Orientierung etc.) kann allein das Wissen darüber, dass es sich um ein Vorurteil bzw. in diesem Fall einen Wahrnehmungs-Bias handeln könnte, helfen, andere Menschen "objektiver" zu beurteilen.

Die folgenden psychologischen Effekte bei der Beurteilung anderer Personen kommenbesonders häufig bei der Beurteilung von musikalischer Performance vor.


Unklare Bewertungskriterien

Ein zentraler Grund für subjektiv sehr unterschiedliche Beurteilung der selben Leistung sind unklar oder fehlende Bewertungskriterien. Bei einem Gesamturteil ohne strukturierte Abfrage von Teilaspekten besteht erheblicher Interpretationsspielraum. Ich bemerkte bei mir selbst, dass ich die Bewertung der Darbietungen überweigend nach den Kriterien Gefallen/Missfallen, Originalität der Interpretation und in einer Art auch der "Fehlerlosigkeit" beurteilte. Doch was genau heisst das im Einzelfall? Kann ein Aspekt, z.B. Originalität einen anderen, z.B. ein paar Fehler, aufwiegen? Wie fliessen diese relativ in die Bewertung ein? Unbewusste Beurteilungs-Verzerrungen wie der Halo-Effekt oder der Mere-Exposure-Effekt haben es so ausserdem besonders leicht.


Halo-Effekt

Der Halo-Effekt beschreibt, dass Menschen dazu neigen, Menschen auf Basis einer einzelnen Eigenschaft zu beurteilen, die alles andere "überstrahlt" - wie ein Halo. Ein bekanntes Beispiel aus der Sozial-Psychologie ist der "What is beautiful is good"-Effekt: Verschiedene Experimente konnten zeigen, dass Menschen andere Personen als kompetenter einschätzen, wenn diese objektiv gesehen (sofern man das sagen kann) als attraktiv oder gutaussehend gelten, auch wenn sie auf dem Papier im Experiment die selben Fähigkeiten besassen. Die Eigenschaft der Attraktivität überstrahlt hier die anderen Eigenschaften der Personen. Auch Persönlichkeits-Eigenschaften oder Fähigkeiten können einen Halo-Effekt ausüben - positive wie negativ!


Sight over Sound

Alle Musizierenden werden mir zustimmen, dass der Klang die wichtigste Informationsquelle ist um zu beurteilen, wie gut eine musikalische Performance ist. Schliesslich geht es bei Musik um den Klang. Leider konnte eine Studie von Chia-Jung Tsay zeigen, dass selbst erfahrene Jury-Mitglieder ihre Beurteilung unbewusst hauptsächlich auf visuellen Urteilen basierten. Bei einem Experiment konnten sie den/die Gewinner:innen eines internationalen Musikwettbewerbs am besten anhand der Videos ohne Ton (im vergleich zu Videos mit Ton oder Ton alleine) erkennen. Der Klang lieferte somit keine zusätzliche Information über die visuelle Performance hinaus. Ausserdem zeigt die Studie, wie wichtig die Bühnenpräsenz/-performance bereits in der Auftrittssituation selbst (vor Jury oder Publikum) ist.





Erster Eindruck

Laut Regeln dürfen Jury-Mitglieder, die mit Kandidierenden verwandt sind oder diese länger als Lehrer:innen unterrichtet haben, nicht für diese abstimmen. Als "Schüler:in" des Jury-Mitglieds gilt dabei nur, wer mehr als 5 Unterrichtsstunden bei der Person hatte, wobei Meisterkurse nicht mitzählen. Diese Regelung kommt mir psychologisch schwach vor, denn es ist bekannt, dass Menschen bereits nach kurzen Augenblicken feste Meinungen von ihrem Gegenüber entwickeln, die schwer korrigierbar sind. Schon 1968 konnte eine Studie von Jones et al. zeigen, dass bei einem wiederholten Leistungstest die erste Performance der Kandidat:innen massgeblich einen Bias (Verzerrung) bei den Beurteilern auslöste: Kandidat:innen die sich bei der Wiederholung des Tests verbesserten, wurden schlechter bewertet, als die Gruppe, die sich verschlechterte. Gleiche Auswirkung hat der erste Eindruck der Persönlichkeit, der Website, des visuellen Auftretens usw. (siehe auch Sight over Sound)

Insbesondere aufgrund der 1:1-Betreuung ist davon auszugehen, dass Lehrer:innen-Schüler:innen nach 5 Stunden bereits ein relativ intensives positives oder negatives Verhältnis bzw. Meinung voneinander haben können, die weit über das "objektiv" musikalische hinaus geht. Mir ist jedoch bewusst, dass man im Musikbereich, gerade auf höchstem Niveau, kaum eine strengere Regel anwenden könnte, da es sehr üblich ist, zahlreiche Meisterkurse oder Einzelunterricht bei verschiedenen Dozierenden zu besuchen, um vielseitigen Input zu bekommen.


Reihenfolge-Effekte

Die menschliche Wahrnehmung wie auch das Gedächtnis sind massgeblich von Reihefolgen-Effekten beeinflusst. Menschen können sich an die zuerst und zuletzt in einer Reihe auftretenden Menschen oder Inhalte einer Liste besser erinnern, als an jene, die in der Mitte vorkommen (Primacy- /Regency-Effekt). Indirekt üben auch die Tageszeit über die Wachheit und den Hormonspiegel (Cortisol), sowie der Tag in der Woche (Grad der Erschöpfung) Einfluss auf die kognitive Leistung aus, z.B. auf die Aufmerksamkeit auf eine musikalische Performance und die Erinnerungsfähigkeit daran. Eine persönliche Neigung eines Jury-Mitglieds zu Milde bzw. Strenge nimmt in der Regel auch mit der Folge von Sessions ab. Ähnliches ist bei Schulleistungstests bekannt: Lehrer:innen bewerten meistens die ersten Arbeiten einer Klasse deutlich strenger und passen diese Bewertung später erneut an, wenn sie im Verlauf der Korrektur bemerken, dass das durchschnittliche Niveau der Klasse nicht ihrer ersten Erwartung entspricht. Bei Musikwettbewerben wird jedoch meistens unmittelbar die Bewertung eingereicht um Absprachen zu verhindern. Die ersten Kandidat:innen haben deshalb oft einen Nachteil, was die Reihenfolge-Effekte der Studie über den Queen-Elisabeth-Wettbewerb erklärt.


Mere-Exposure-Effekt

Einen weiteren Nachteil haben die ersten Kandidat:innen wenn es um die Präsentation eines neuen, unbekannten Musikwerkes (Uraufführung) geht. Menschen bewerten andere Personen, Dinge oder Situationen umso positiver, je häufiger sie damit Kontakt haben. Allein durch die häufige Begegnung damit (Mere-Exposure) stuft das Gehirn den Reiz als angenehmer und relevanter ein und merkt sich diesen auch besser. Diesen Effekt macht sich insbesondere die Konsumenten-Werbung zum Nutzen.


Bestätigungs-Bias

Es existieren zahlreiche Arten und Varianten des Confirmation-Bias. Menschen neigen dazu, bestätigung ihrer eigenen Annahmen in ihrer Umwelt zu suchen und daher auch zu finden. Auf diesem Effekt basieren unter anderem hartnäckige Vorurteile. Dies liegt daran, dass das Gehirn es liebt, Vorhersagen zu treffen, und es besonders mag, wenn diese erfüllt werden.

Im sozialen Kontext gibt es einen weiteren Effekt, den Solomon Asch schon 1950 entdeckte. Menschen in Gruppen tendieren selbst bei offensichtlichen und sehr einfachen Aufgaben, wie dem Streichholz-Test, ihre Meinung an die falsche Meinung anderer anzupassen (conformity bias):



Siehe auch:


Positive Aspekte von Wettbewerben

Als Psychologin ist mir der Regency-Effekt natürlich bekannt, deshalb beende ich den Artikel mit etwas positivem :-).

Neben all der unbewussten und zutiefst menschlichen Neigungen zu psychologischem Bias und Beurteilungsverzerrung haben Musik-Wettbewerbe natürlich auch positive Auswirkungen auf die Kandidat:innen. Je nach Persönlichkeit können Wettbewerbe als kurz- oder langfristige Ziele erheblich die Motivation zum Üben anspornen. Wie bei anderen beruflichen "Summits" bieten sie ausserdem eine Gelegenheit, von anderen zu lernen (Offenheit vorausgesetzt) und sich zu vernetzen. Auch Bühnenperformance und Umgang mit Kritik kann geübt werden.



Quellen und weiterführende Literatur

Bond, R., & Smith, P. B. (1996). Culture and conformity: A meta-analysis of studies using Asch's (1952b, 1956) line judgment task. Psychological bulletin, 119(1), 111.


Bornstein, R. F., & D'agostino, P. R. (1992). Stimulus recognition and the mere exposure effect. Journal of personality and social psychology, 63(4), 545.


Flôres Jr, R. G., & Ginsburgh, V. A. (1996). The Queen Elisabeth musical competition: How fair is the final ranking? Journal of the Royal Statistical Society: Series D (The Statistician), 45(1), 97-104.


Glejser, H., & Heyndels, B. (2001). Efficiency and inefficiency in the ranking in competitions: The case of the Queen Elisabeth Music Contest. Journal of cultural Economics, 25, 109-129.


Klayman, J. (1995). Varieties of confirmation bias. Psychology of learning and motivation, 32, 385-418.


Jones, E. E., Rock, L., Shaver, K. G., Goethals, G. R., & Ward, L. M. (1968). Pattern of performance and ability attribution: An unexpected primacy effect. Journal of Personality and Social Psychology, 10(4), 317.


Nisbett, R. E., & Wilson, T. D. (1977). The halo effect: Evidence for unconscious alteration of judgments. Journal of personality and social psychology, 35(4), 250.


Tan, L., & Ward, G. (2000). A recency-based account of the primacy effect in free recall. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 26(6), 1589.


Tsay, C. J. (2013). Sight over sound in the judgment of music performance. Proceedings of the National Academy of Sciences, 110(36), 14580-14585.



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