Games Musicians Play - Teil I: Zwischenmenschliche Dynamiken in der Musikwelt
- Dr. Teresa Wenhart 
- 2. Okt.
- 8 Min. Lesezeit
Dieser Artikel untersucht typische zwischenmenschliche Dynamiken in der Musikwelt durch die Brille von Eric Bernes Games People Play. Obwohl Bernes Spiele vielfach diskutiert wurden, sind diese bisher noch nicht systematisch auf Musiker:innen angewandt worden. Teil I stellt die Verbindung zwischen Bernes Spiel-Logik und Youngs Schemata her und diskutiert sechs von insgesamt elf zentralen „Spielen“ im spezifischen Kontext von Musiker:innen. Im Fokus stehen die psychologischen Muster (Schemata), die diesen „Games Musicians Play“ zugrunde liegen, sowie ihre Manifestationen im musikalischen Alltag.

Eric Bernes revolutionäres Werk "Games People Play" eröffnete uns in den 1960er Jahren den Blick auf subtile psychologische Spiele in zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Spiele wurden seither auf verschiedene soziale Kontexte übertragen – die Musikwelt jedoch blieb bisher unerforscht.
In der Musikwelt, einem Universum voller kreativer Persönlichkeiten, künstlerischer Verletzlichkeit und intensiver Emotionen, entstehen ganz eigene Spielvarianten. In meiner Ausbildung in schematherapeutischem Coaching habe ich mich intensiv auf jene von Musiker:innen spezialisiert und faszinierende Parallelen zu Bernes "Spielen" erkannt.
Wichtiger Hinweis vorab: Die folgenden Beschreibungen sind bewusst vereinfacht und dienen dem Verständnis sozialer Dynamiken – nicht der Stigmatisierung von Musiker:innen oder der Musikwelt. Psychologische Muster sind normale Persönlichkeitsausprägungen aller Menschen und finden sich in ähnlicher Form in jedem Berufsfeld. Sie werden nur dann problematisch, wenn sie inflexibel werden und die persönliche oder berufliche Entwicklung einschränken.
Wer sich selbst und andere besser versteht, kann stabilere und glücklichere soziale Beziehungen aufbauen, besser zusammenarbeiten und sich selbst besser regulieren – mit dem echten Payoff von grösserer künstlerischer Freiheit, besserem Wohlbefinden und mehr Erfolg.
Theoretische Grundlagen: Transaktionsanalyse trifft Schematherapie
Eric Bernes Transaktionsanalyse
Berne erkannte schon in den 1960ern, dass viele zwischenmenschliche Konflikte unbewusst inszenierte psychologische Spiele sind. Diese folgen einem typischen Ablauf – vom ersten Trigger über emotionale Reaktionen bis zur "Belohnung" (Payoff), die das Verhalten verstärkt.
Seine Analyse basiert auf drei Ich-Zuständen:
- Eltern-Ich (kritisch oder fürsorglich) 
- Erwachsenen-Ich (sachlich, reflektiert) 
- Kind-Ich (emotional, bedürftig oder rebellisch) 
Psychologische Spiele entstehen meist aus unerfüllten Bedürfnissen des Kind-Ichs und wiederholen vertraute, aber oft nicht mehr adaptive Beziehungsmuster.
Jeffrey Youngs Schemamodell
Jeffrey Youngs Schematherapie baut auf der Erkenntnis auf, dass unser inneres Erleben stark von sogenannten Schemata geprägt wird – tief verankerten emotionalen Mustern, die meist in Kindheit oder Jugend entstehen. Sie entstehen dann, wenn Grundbedürfnisse wie Sicherheit/Kontrolle, Autonomie, Anerkennung/Kompetenzerleben, emotionalem Ausdruck oder Verbundenheit (Bindung) wiederholt oder dauerhaft nicht erfüllt wurden. Diese Schemata äussern sich durch "Schema-Modi" - inneren Zustände (Emotionen, Gedanken, Verhalten) - zwischen denen wir wechseln.
Zu diesen Modi gehören:
- Verletzte, ängstliche oder wütende Kind-Anteile 
- Strafende oder fordernde innere Kritiker:innen 
- Bewältigungsmodi wie Vermeidung, Überanpassung oder Überkompensation 
- Als Zielzustand: der gesunde oder fitte Erwachsene, der innere Balance halten kann. 
Wissenschaftliche Grundlage: Zwei Schulen mit erstaunlichen Parallelen
Die Ähnlichkeit der Schema-Modi zu den Ich-Zuständen von Eric Bern, ist frappierend. Während Berne die Mechanik der Spiele beschreibt, erklärt Young deren tiefere Motivation. Die frühen maladaptiven Schemata sind die Antriebsfedern für Bernes Spiele.
Auch wenn Transaktionsanalyse und Schematherapie historisch getrennt entwickelt wurden, gibt es klare Überschneidungen. Beide Modelle beschäftigen sich mit inneren Zuständen, Beziehungserfahrungen und wiederkehrenden Rollenmustern. Und beide zielen darauf ab, alte Muster bewusst zu machen und zu verändern.
Ein besonders spannender Beitrag stammt von Gregor Žvelc, der 2010 im Transactional Analysis Journal psychologische Spiele als Ausdruck relationaler Schemata deutete. Auch empirische Studien zeigen:
- Interventionen basierend auf Bernes Transaktionsanalyse können direkt auf maladaptive Schemata wirken, 
- beide Methoden sind in der Paartherapie und Persönlichkeitsentwicklung wirksam und greifen tiefer als verhaltenstherapeutische Massnahmen 
Die direkte Verbindung von Bernes Spielelogik mit Youngs emotionalen Grundmustern ist allerdings noch kaum systematisch erschlossen – vor allem nicht im Kontext von Musik.
Genau hier liegt mein Fokus: In diesem Beitrag bringe ich Bernes strukturierte Spielanalyse mit Youngs Schemamodell zusammen und betrachte dies vor dem Hintergrund meiner Erfahrung in der Arbeit mit Musiker:innen.
Typische psychologische Muster bei Musiker:innen
Die psychologischen Spiele, die Musiker:innen spielen, wurzeln oft in tiefer liegenden Mustern – sogenannten Schemata. Diese entstehen aus prägenden Erfahrungen und werden automatisch aktiviert, besonders unter Stress oder in herausfordernden Situationen. Aus meiner Coaching-Praxis zeigen sich bei Musiker:innen bestimmte Schemata besonders häufig: Unerbittliche Ansprüche, Unzulänglichkeits-/Schamgefühle, Selbstbestrafungstendenzen, Versagensängste, Anspruchshaltung/Grandiosität, Negativität/Pessimismus, Selbstaufopferung oder das Suchen nach Anerkennung.
[Ausführliche Informationen zu den häufigsten Schema-Mustern bei Musiker:innen findest du im Hintergrundartikel Schemata bei Musikern - psychologische Muster reflektieren und Selbstkompetenz stärken]
Diese Muster sind verständliche Reaktionen auf die besonderen Anforderungen der Musikwelt: frühe Spezialisierung, regelmäßige öffentliche Bewertung, hierarchische Strukturen und hohe Perfektionsansprüche. Ursprünglich halfen sie, schwierige Situationen zu meistern – heute können sie jedoch Handlungsspielräume einschränken.
Die gute Nachricht: Wie im Jazz können wir unser "inneres Repertoire" durch neue Schemata ausbauen – statt nur im gewohnten Schema zu bleiben, entwickeln wir Handlungsalternativen für unser Leben.
Games Musicians Play: Zwischenmenschliche Dynamiken in der Musikwelt
Vielleicht erkennst du dich in mehr als nur einer Rolle wieder. Die Beispiele zeigen jeweils eine Hauptdynamik – in der Realität sind meist mehrere Muster beteiligt und alle Beteiligten bringen ihre eigenen Schemata mit ein. In Klammern steht jeweils, welches Spiel von Eric Berne damit verwandt ist.
1. "Das perfekte Vorspielen" (Variante von "Why Don't You... Yes, But")
Spielverlauf: Die Violinistin Elena Kowalski beklagt sich bei Kolleg:innen über ihre Nervosität bei Vorspielen und bittet um Ratschläge, weist aber jeden Vorschlag zurück. Jeder Ratschlag wird mit einem "Ja, aber..." blockiert.
Beispiel:
"Ich bin so nervös vor dem Vorspielen für die Philharmoniker morgen." -"Versuch doch Atemübungen oder mentales Training." - "Ja, aber das hilft bei mir nie. Meine Nervosität ist anders."
[Übt trotz Ratschlägen keine Entspannungstechniken und vermeidet Probeaufnahmen]
"Das Stück ist zu schwer... zu einfach... zu bekannt... zu unbekannt."
Schema-Hintergrund: Hier dominieren die Schemata Versagen/Unzulänglichkeit und/oder Unerbittliche Ansprüche. Elena sucht Bestätigung für ihre Angst, nicht wirklich Lösungen (Vermeidung), da echte Hilfe das Risiko des Scheiterns erhöhen würde. Sie denkt: "Wenn ich es nicht richtig probiere, kann ich sagen, dass ich nervös war, statt dass mein Spiel nicht gut genug war."
Payoff: Vermeidung der Angst vor Imperfektion durch endlose Vorbereitung ohne je wirklich anzufangen. Sammelt Aufmerksamkeit ohne Risiko einzugehen.
2. "Der verlorene Solist" (Variante von "Wooden Leg")
Das Spiel: Kenji nutzt seine "künstlerische Sensibilität" als Begründung für alle zwischenmenschlichen Probleme.
Beispiel:
"Ich kann nicht in diesem Ensemble spielen. Als Solist fühle ich zu intensiv. Kammermusik erstickt meine künstlerische Seele."
[Sagt Proben ab und isoliert sich, statt konkrete Schwierigkeiten zu kommunizieren oder Kompromisse zu suchen]
Schema-Hintergrund: Selbstaufopferung verbindet sich mit Grandiosität – "Andere verstehen nicht, wie tief ich fühle" oder "Ich bin etwas Besonderes."
Payoff: Schutz vor Herausforderungen und möglicher Ablehnung durch die "Holzbein"-Entschuldigung.
3. "Jazz-Puristen-Poker" (Variante von "Mine's Better Than Yours")
Spielverlauf: Marcus aus New Orleans und Yuki aus Tokio, beide Jazzmusiker, übertrumpfen sich gegenseitig mit obskurem Jazz-Wissen und Authentizitätsbehauptungen. Endlose Diskussionen über "authentischen" Jazz, wer die "echteren" Einflüsse hat, die "purere" Technik oder das "tiefere" Verständnis der Tradition.
Beispiel:
"Du singst Ella Fitzgerald? Das ist ja süß. Ich studiere gerade die verschollenen Aufnahmen von Clifford Brown. Die kennt kaum jemand."
[Hört dann stundenlang obskure Aufnahmen und sammelt Trivia, statt an seinem eigenen Spiel zu arbeiten]
Schema-Hintergrund: Unzulänglichkeit wird durch Überlegenheitsgefühle und Vermeidung (Prokrastination) kompensiert.
Payoff: Aufrechterhaltung der Vorstellung von künstlerischer Überlegenheit ohne sich durch eigene Kreationen bewerten lassen zu müssen.
4. "Die stumme Orchestermusikerin" (Variante von "Yes, But" + "Poor Me")
Spielverlauf: Fatima beschwert sich über ihre Orchesterposition, lehnt aber jede Veränderung ab.
Beispiel:
"Niemand hört die Bratsche, wir sind nur Füllmaterial. Aber ins Solistenfach kann ich auch nicht – viel zu viel Druck."
[Bewirbt sich nie um Solopartien, lehnt Kammermusik-Angebote ab]
Schema-Hintergrund: Versagensangst und Unterwerfung verstärken sich gegenseitig – "Lieber unglücklich bleiben, als komplett abgelehnt zu werden."
Payoff: Mitleid sammeln ohne Zurückweisungsrisiko.
5. "Die überarbeitete Konzertmeisterin" (Variante von "Harried Executive")
Spielverlauf: Sarah übernimmt ständig zusätzliche Aufgaben und beklagt sich permanent über Überforderung.
Beispiel:
"Ich kann nicht zur Party – morgen Probe, übermorgen Konzert, drei Stimmen korrigieren, Solisten coachen... Ohne mich bricht alles zusammen."
Schema-Hintergrund: Selbstaufopferung und unerbittliche Ansprüche kombiniert mit Anerkennungssuche – kann keine Grenzen setzen, erwartet aber Bewunderung.
Payoff: Bestätigung der Unentbehrlichkeit und Dankbarkeitsschulden sammeln.
6. "Das wird sowieso nichts!" (Variante von "Why Does This Always Happen to Me?")
Spielverlauf: Der Klarinettist Roberto Silva sabotiert systematisch seine Chancen bei wichtigen Gelegenheiten durch selbstzerstörerische Vorhersagen und Verhaltensweisen (kommt unpünktlich zu Auditions, bereitet sich schlecht vor, sagt Konzerte ab). Dadurch werden diese Situationen für ihn zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung und er beklagt sich dann über sein "Pech" und die "Ungerechtigkeit der Musikwelt".
Beispiel:
Vor wichtigen Terminen:
"Warum bereite ich mich überhaupt vor? Die Jury ist eh schon gekauft, die Russen werden gewinnen. Mein Ansatz war schon immer problematisch. Ich werde mich nur blamieren."
[Übt daraufhin weniger und trinkt am Vorabend Alkohol]
"Dieser Dirigent hasst italienische Musiker sowieso. Das Stück liegt mir nicht. Die Akustik in der Philharmonie macht mich nervös. Das wird ein Desaster."
[Versäumt wichtige Proben und kommt schlecht vorbereitet an]
Schema-Hintergrund: Erfolglosigkeit/Versagen und Unzulänglichkeit/Scham - Roberto hat solche Angst vor Ablehnung und Versagen, dass er sich vorher bereits selbst sabotiert. So kann er sagen "Ich habe ja gewusst, dass es nichts wird" statt sich dem Risiko echter Bewertung auszusetzen. Das Schema Negativität/Pessimismus lässt ihn das Schlimmste erwarten.
Payoff: Bestätigung der Opferrolle ohne die Angst vor echtem Erfolg oder Versagen durchleben zu müssen. Schutz vor echter Enttäuschung mit dem Gefühl, "recht behalten" zu haben.
Ausblick auf Teil II:
Im nächsten Beitrag stelle ich dir fünf weitere typische Spiele aus der Musikwelt vor – darunter „Meister und Schüler“, „Die unverstandene Komponistin“ und „Probe-Roulette“. Außerdem geht es um konkrete Strategien aus Coaching und Schemaarbeit: Wie Musiker:innen aus diesen Mustern aussteigen und zu authentischerer Kommunikation und mehr künstlerischer Freiheit finden können.
Fazit: Von Spielen zu echter Begegnung
Schemata als Signale verstehen
Die psychologischen Spiele, die in der Musikwelt entstehen, sind weder zufällig noch problematisch per se. Sie wurzeln in realen psychischen Bedürfnissen und früheren Erfahrungen. Statt diese Muster zu verurteilen, können wir sie als Signale verstehen - Hinweise auf unerfüllte Bedürfnisse nach Anerkennung, Sicherheit, Autonomie und authentischer Verbindung.
Die Verbindung zwischen Bernes Transaktionsanalyse und Youngs Schemamodell zeigt: Hinter jedem wiederkehrenden zwischenmenschlichen Spiel steht ein tieferes emotionales Muster, das ursprünglich als Schutz- oder Bewältigungsstrategie entstanden ist. Diese Erkenntnis eröffnet neue Perspektiven für das Verständnis sozialer Dynamiken im Musikbereich.
Die besondere Dynamik der Musikwelt
Der Musikbereich schafft durch seine spezifischen Charakteristika - frühe Spezialisierung, regelmäßige öffentliche Bewertung, hierarchische Strukturen und hohe Perfektionsansprüche - einen fruchtbaren Boden für bestimmte Schema-Aktivierungen. Dies erklärt, warum manche zwischenmenschlichen Muster in diesem Umfeld besonders häufig oder intensiv auftreten können.
Gleichzeitig bietet die Musik als künstlerisches Medium einzigartige Möglichkeiten für emotionalen Ausdruck und menschliche Verbindung - Ressourcen, die bei der Entwicklung authentischerer Beziehungsformen genutzt werden können.
Der Weg zu bewussteren Beziehungen
Das Erkennen psychologischer Spiele ist nur der erste Schritt. Der eigentliche Wandel liegt in der Entwicklung bewussterer Wahlmöglichkeiten: Statt automatisch in gewohnte Rollen zu fallen, können Musiker:innen lernen, ihre Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen, einzuordnen und angemessener zu kommunizieren.
Dies bedeutet nicht die Vermeidung aller "Spiele" - manche erfüllen durchaus wichtige soziale Funktionen. Vielmehr geht es darum, flexibler zu werden und situationsangemessen reagieren zu können, statt in starren Mustern gefangen zu bleiben.
Die Synthese von Bernes strukturierter Spielanalyse mit Youngs emotionalen Grundmustern bietet einen differenzierten Rahmen für diese Entwicklung - besonders in einem Berufsfeld, indem persönliche Verletzlichkeit und künstlerische Authentizität so eng miteinander verwoben sind.
Mehr lesen:
(Schemata bei Musikerinnen und Musikern)
Interview mit der Deutschen Orchestervereinigung Unisono: https://uni-sono.org/wp-content/uploads/2024/11/2024-11-28-Huebsch-im-Interview-mit-HIldebrandt-und-Wenhardt-2024.pdf
Wenhart T. Mental Stark, psychisch gesund - Konzeption von Schema-Workshops für Musiker:innen und Musiklehrkräfte. 2024 DOI: 10.13140/RG.2.2.21773.51686
Quellen:
- Berne, E. (2011). Games people play: The basic handbook of transactional analysis. Tantor eBooks. 
- Žvelc, G. (2010). Relational Schemas Theory and Transactional Analysis. TA Journal, 40(1), 16–29. 
(Schemata, Schematherapie und Schemacoaching generell)
- Young, J.E., Klosko, J.S. & Weishaar, M.E. (2003) Schema Therapy: A practitioner’s guide. New York, NY: Guilford Press 
- Jacob, G., & Arntz, A. (2015). Schematherapie in der Praxis. Beltz 
- Handrock, A., Zahn, C. A., & Baumann, M. (2016). Schemaberatung, Schemacoaching, Schemakurzzeittherapie. Beltz 







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