Mentaltraining für Musiker Teil III: mentale Tiefenarbeit für die Bühne
- Dr. Teresa Wenhart

- 4. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
Du bist bestens vorbereitet – und trotzdem sabotieren dich innere Kritiker:innen kurz vor dem Auftritt? Im dritten Teil der Reihe "Mentaltraining für Musiker" geht es um die verborgenen Programme hinter Lampenfieber und Selbstzweifeln. Statt kurzfristigen Tipps lernst du, wie du mit dem Inner Orchestra Mapping, Somatischem Reframing und biografischem Spurenlesen tief verankerte Muster veränderst und deinen mentalen Spielraum erweiterst.

Du stehst vor dem Auftritt, deine Hände sind perfekt eingespielt, jede Passage sitzt – und trotzdem fühlt sich dein Kopf an wie ein Minenfeld. Willkommen in der komplexen Welt der Musikerpsychologie, wo technische Perfektion und mentale Realität oft zwei völlig verschiedene Sprachen sprechen.
Viele Strategien aus dem Bereich von Mental- und Auftrittstraining handeln von Atemtechniken und positiven Vorstellungen und Affirmationen. Das kann in solchen schwierigen Momenten sehr hilfreich sein, aber es kratzt nur an der Oberfläche. In stressigen Lebensphasen kehren die zugrundeliegenden Schwierigkeiten dann häufig unkontrolliert zurück. Die langfristige, nachhaltige Arbeit beginnt dort, wo es unbequem wird: in der Auseinandersetzung mit deinen unbewussten Mustern, Glaubenssätzen und der Frage, warum dein Gehirn Musik manchmal als Bedrohung interpretiert.
Erweitertes Mentaltraining für Musiker
1. Das "Innere Orchester" Mapping: Wenn deine Psyche Kammermusik spielt
Manchmal konkurrieren in uns verschiedene Stimmen: der innere Kritiker, die kreative Spielerin, der vorsichtige Zweifler, die enthusiastische Entdeckerin. Statt sie zu verdrängen, lohnt es sich, sie wie Instrumente in einem Orchester wahrzunehmen und ihre Rollen bewusst zu erforschen. So entsteht ein inneres Zusammenspiel, das dich auf der Bühne stabiler und flexibler macht.
👉 Die detaillierte Übung findest du hier: Das "Innere Orchester" Mapping: Wenn deine Psyche Kammermusik spielt
2. Somatisches Reframing: Von der Panik zur Power
Worum es geht: Nervosität und positive Aufregung (Vorfreude) sind physiologisch nahezu identisch – der Unterschied liegt in der Interpretation. Ein Beispiel ist zum Beispiel die Aufregung bei der Verliebtheit.
So funktioniert’s:
Wenn Lampenfieber aufkommt, sage nicht „Ich bin nervös“, sondern „Ich bin vorfreudig“.
Spüre bewusst die körperlichen Sensationen: Herzschlag, Kribbeln, Energie.
Stelle dir vor, das ist dein persönlicher Performance-Modus – wie bei Sportler:innen kurz vor dem Wettkampf.
Entwickle einen körperlichen „Power-Move“: Arme heben, Brust weiten, tief atmen.
Sage dir: „Mein Körper bereitet mich auf Höchstleistung vor.“
Übe diese Umdeutung bereits in entspannten Momenten beim Spielen.
Das Gehirn lernt, dieselben Signale unterschiedlich zu deuten. Adrenalin verwandelt sich von einem Signal der Bedrohung „Stresshormon“ in ein Signal der Bereitschaft und Power „Leistungshormon“.
3. Biografisches Spurenlesen: Deine musikalische Prägungsgeschichte
Worum es geht: Verstehen, woher deine spezifischen Muster kommen – und sie bewusst neu schreiben.
So funktioniert’s:
Reise zurück zu deinen frühesten Musikerfahrungen: Wann standest du das erste Mal vor Publikum?
Identifiziere prägende Momente: Kritik von Lehrenden, Reaktionen deiner Familie, erste Auftritte, schwierige soziale Situationen in Kammermusik oder Orchester.
Erkenne wiederkehrende Themen: „Ich muss perfekt sein“, „Andere bewerten mich“, „Wenn ich nicht gut genug bin, gehöre ich nicht dazu“. (Siehe auch: Die Hitparade der inneren Kritiker bei Musikern)
Schreibe diese Erfahrungen auf und frage dich: Sind diese Schlussfolgerungen heute noch gültig?
Entwickle neue, erwachsene Narrative: z.B.„Damals war ich ein Kind und abhängig von Anerkennung. Heute musiziere ich aus Liebe zur Musik.“
Führe imaginäre Gespräche mit deinem jüngeren Musik-Ich.
Viele unserer heutigen Schwierigkeiten sind oder basieren auf alten Überlebensstrategien, die im Erwachsenenleben oft nicht mehr passen.
Die Verhaltenspsychologie dahinter: Wenn Schutzprogramme sabotieren
In der modernen Psychologie und Neurowissenschaft verstehen wir „Symptome“ als adaptive Reaktionen auf äussere Situationen, die sich auf Basis früherer Erfahrungen (z.B. soziales Umfeld, Musikunterricht, Konzerterfahrungen) im Gehirn gebildet haben. Lampenfieber ist keine Krankheit oder Schwäche – es ist ein hochentwickeltes Warnsystem, das in Momenten sozialer Unsicherheit aktiviert wird.
Problematisch wird es, wenn diese automatischen Programme nicht mehr zur aktuellen Realität passen. Höchstleistung entsteht nicht durch das Verleugnen von Zweifeln, sondern durch die Integration aller Persönlichkeitsanteile. Nervosität, Perfektionismus, Selbstkritik – was oft störend wirkt, sind wichtige Informationsquellen über dein psychisches System.
Die hier beschriebenen Methoden helfen, starre Muster aufzulockern und alternative neuronale Netzwerke aufzubauen. Aber: Veränderung braucht Zeit und Wiederholung. Jede kleine Unterbrechung automatischer Reaktionsmuster ist bereits ein Akt der Neuroplastizität.
Siehe auch: Schemaarbeit bei Musiker:innen
Integration: Der Weg zu authentischer Performance
Künstlerische Reife entsteht nicht durch die Eliminierung „schwieriger“ Anteile, sondern durch deren bewusste Integration. Forschung zur emotionalen Intelligenz zeigt: Die besten Performer:innen sind nicht die, die keine Zweifel haben, sondern die, die konstruktiv mit ihnen umgehen können.
Wenn du lernst, Körperreaktionen umzudeuten und biografische Spuren bewusst neu zu schreiben, beginnst du, dein Musiker:innen-Selbst auf einer tieferen Ebene zu transformieren. Du integrierst verschiedene Persönlichkeitsanteile auf hilfreiche Weise in dein einzigartiges Selbst. Musikalische Fähigkeiten bleiben die Basis – doch wirkliche Freiheit im Ausdruck entsteht, wenn innere Programme neu verknüpft werden.
So gewinnst du nicht nur mehr Gelassenheit im Umgang mit dir selbst, sondern auch mehr Authentizität und Präsenz auf der Bühne. Gleichzeitig fördert diese Arbeit Selbsterkenntnis, unterstützt dich in geschäftlichen wie privaten Beziehungen und stärkt die Basis für erfolgreiche Projekte. Oft entsteht daraus ein Dominoeffekt: mehr Klarheit bringt bessere Kommunikation, bessere Kommunikation vertieft Beziehungen – und diese Stabilität eröffnet dir neue künstlerische und persönliche Möglichkeiten.
Mehr lesen:
Interview mit der Deutschen Orchestervereinigung Unisono: https://uni-sono.org/wp-content/uploads/2024/11/2024-11-28-Huebsch-im-Interview-mit-HIldebrandt-und-Wenhardt-2024.pdf
Quellen:
Wenhart, T. & Hildebrandt, H. (2025). Music Students' Psychological Profiles: Unveiling Three Coping Clusters Using Schema Mode Inventory. (accepted, in press)
Wenhart T. Mental Stark, psychisch gesund - Konzeption von Schema-Workshops für Musiker:innen und Musiklehrkräfte. 2024 DOI: 10.13140/RG.2.2.21773.51686







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